- Spielleute und Minnesänger
- Spielleute und MinnesängerBei der Betrachtung der gesellschaftlichen Bindung der Menschen und ihrer damit zusammenhängenden Stellung zur Musik kann man - mit gebotener Vorsicht - von dem bekannten Modell der »drei Ordnungen« ausgehen. Denn die ständische Dreigliederung der mittelalterlichen Gesellschaft in »Laboratores« (Bauern und Handwerker), »Bellatores« (der ritterliche und höfische Adel) und »Oratores« (der geistliche Stand) spiegelt sich natürlich auch im Musikleben wider, allerdings mit gewichtigen Einschränkungen. Zum einen verhalf gerade die Musik gelegentlich dazu, soziale Schranken zu durchbrechen, wenn beispielsweise Musikanten am Hof oder vor kirchlichen Würdenträgern aufspielten oder hochgestellte Personen selbst an Gesang und Tanz teilnahmen. Ferner verschob sich im späten Mittelalter die gesellschaftliche Rangordnung. Mit dem Aufblühen der Städte, dem Erstarken einer finanzkräftigen Kaufmannsschicht und der Gründung von weitgehend autonomen Universitäten änderte sich auch die Bedeutung und Bewertung musikalischer Formen und Gattungen. Schließlich muss die musiksoziologische Betrachtung mittelalterlichen Lebens im Blick behalten, dass die Quellen, die die »drei Ordnungen« beschreiben und als gottgewollt proklamieren, von denen stammen, die sich an der Spitze dieser Hierarchie sahen, nämlich von Geistlichen, die als Einzige schriftkundig waren.Aus dem gleichen Grund ist die musikalische Überlieferung im Wesentlichen auf die Musik der Oberschicht eingegrenzt. Die Musik des einfachen Volkes wurde nicht aufgezeichnet. Man kann zwar davon ausgehen, dass sie in dem oft bedrückend arbeitsreichen Dasein der einfachen Menschen eine wichtige Rolle spielte. Aber wir wissen wenig darüber, was etwa zu Hochzeiten, christlichen Feiertagen oder jahreszeitlichen Festen des bäuerlichen Lebens erklang. Nur gelegentliche Hinweise darauf, dass hier »schlichtere« und »einfältigere« Lieder, zum Beispiel Refraingesänge und Reigen, gesungen wurden, oder Bildbelege mit instrumental begleiteten Tänzen vermitteln eine ungefähre Ahnung von dieser sicherlich bunten, vielleicht auch rauhen und spröden Klangwirklichkeit.Während die zumeist abhängigen Bauern weiterhin den größten Anteil der Bevölkerung ausmachten und ihr Leben - damit auch ihr Umgang mit Musik - sich kaum veränderte, bildete sich seit dem 11. Jahrhundert in den Städten aus der Schicht der »Laboratores« allmählich ein Bürger- und Handwerkertum heraus, das mit den neuen Formen städtischen Lebens auch neue musikalische Ansprüche und Gepflogenheiten entwickelte. Daraus wiederum ging, immer noch auf die gleiche Wurzel zurückführbar, der Stand der reichen, großbürgerlichen Kaufleute hervor, den ein gehobeneres kulturelles Niveau auszeichnete, wie es die artifizielle Hausmusik des 13. und 14. Jahrhunderts erkennen lässt.Etwas deutlicher als über die Musik des einfachen Volkes sind wir über die Musik der Spielleute unterrichtet. Illustrationen und Berichte dokumentieren ihr reiches Instrumentarium wie zum Beispiel Fiedel, Harfe, Laute, Psalterium, Drehleier, Flöte, Schalmei, Sackpfeife, Horn, Trompete, Trommel und Portativ. Spätmittelalterliche Quellen verzeichnen daneben auch einige Spiel- und Tanzstücke aus ihrem wahrscheinlich sehr vielfältigen, lange Zeit nur mündlich weitergegebenen Repertoire. Der Spielmann war nicht nur Musiker, sondern meist auch Geschichtenerzähler, Puppenspieler, Gaukler, Akrobat und Tierbändiger. Bei den Angehörigen aller Schichten beliebt, immer gegenwärtig bei Festen und Feiern, Kirchweih und Prozessionen, bei Ritterschlag, Turnier und Heerzug, besaß er dennoch gesellschaftlich das geringste Ansehen. Als Fahrender ohne Mittel und Besitz gehörte er keinem Stand an und galt als sittenlos und »unehrlich«. So war er sozial ein Außenseiter und juristisch weithin rechtlos. Erst im Hoch- und Spätmittelalter wurden viele Spielleute sesshaft. Mehr und mehr wurden sie als beruflich spezialisierte Musiker angesehen, konnten sich in Zünften organisieren und nahmen teilweise, etwa an den Höfen, gesellschaftlich geachtete Positionen ein.Zu den fahrenden Musikern gehört auch eine Gruppe, die die unterschiedliche Gewichtung gesellschaftlicher Vorgaben beim Umgang mit Musik anschaulich macht. Es sind die »Clerici vagantes«, die wandernden Kleriker und Studenten, deren Repertoire beispielsweise die aus dem 13. Jahrhundert stammende Handschrift »Carmina Burana« widerspiegelt. Es waren in der Regel in Klosterschulen ausgebildete Leute, die ihre Gedichte zumeist auf lateinisch, nur selten in der Volkssprache abfassten. Daher wird ihr Publikum eher in der gebildeten Schicht zu suchen sein, also bei Geistlichen und Mitgliedern der Universitäten, die den Witz, den Sarkasmus und die Parodie, die solche Texte häufig enthielten, verstehen und genießen konnten.An der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide des Mittelalters standen Adel und Geistlichkeit. »Bellatores« und »Oratores« rangen jahrhundertelang um die Vormacht und den gegenseitigen Einfluss und waren doch als gemeinsame Angehörige der Oberschicht aufeinander angewiesen. So übte der geistliche Stand im Bereich adligen Lebens oft wichtige Funktionen aus. Exemplarisch für ein besonders enges Zusammenwirken von weltlichem Machtstreben und geistlicher Einflussnahme war die Missionierung beziehungsweise Christianisierung des Sachsenlandes durch Karl den Großen. Sie war Teil der karolingischen Bemühungen um eine kulturelle Einigung des gesamten Frankenreichs. Und dieses Streben nach einem geeinten christlichen Reich mit einer einheitlichen Liturgie und einem einheitlichen Kirchengesang hatte für die Geschichte der Musik größte Bedeutung.Die funktionelle Einbindung des geistlichen Standes in weltliche Belange fand auf allen Ebenen des mittelalterlichen Lebens statt. So lag ein großer Teil der Verwaltungsarbeit und fast jegliche Art schriftlicher Aufzeichnung in den Händen von Klerikern, auch im Bereich des Hofes und des Rittertums. Das bedeutete für die musikalische Überlieferung, dass die Quellen höfischer Musik in der Regel von geistlichen Schreibern stammten, und es erklärt auch, warum die Niederschriften von Melodien der Minnesänger zwar viel reichhaltiger vorhanden sind als die der Volksgesänge und -tänze, aber immer noch ungleich geringer, auch weitaus später einsetzend, als die der geistlichen Musik.Die Minnesänger des 12. und 13. Jahrhunderts waren, abgesehen von einigen hohen Adligen, gewissermaßen Dichter von Beruf, die ihr Leben lang umherzogen und abhängig waren von der Gunst derjenigen, die ihre Kunst, wohl die beliebteste Unterhaltung bei Hofe, hören wollten. Nicht wenige von ihnen gehörten dem Ritterstand an, waren aber durch die Verhältnisse, etwa wenn der ältere Bruder die Burg geerbt hatte, verarmt und mussten versuchen, mit dem Teil der Ritterausbildung, der der Dichtung und der Musik gewidmet war, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nur im Hochmittelalter war der Minnesang die höfische Kunst par excellence, später wurden ihre Inhalte und Formen auch von bürgerlichen Dichtern und Sängern übernommen und vielfach abgewandelt.Insgesamt ist aber die Musikgeschichte des Mittelalters, insofern sie sich primär an schriftliche Musikaufzeichnungen halten muss, ganz überwiegend eine Geschichte der geistlichen Musik, zumindest bis ins 13. Jahrhundert hinein. Kloster und Kathedrale waren die zentralen Orte für eine umfängliche Musikpflege, oft auch für die stilistisch jeweils fortgeschrittenste Musik. An Kloster- und Kathedralschulen fand die jahrelange und mühevolle Ausbildung der Knaben zu professionellen Sängern und Musikern statt. Hier wirkten die prominentesten Komponisten und die einflussreichsten Theoretiker, hier wurde die Notierung von Musik erprobt und ausgefeilt, hier wurden die Handschriften angelegt, die die geschichtliche Entwicklung der Musik des Mittelalters dokumentieren, und von hier aus wurde verbreitet, was als musikalisch gültig und vorbildlich gelehrt und durchgesetzt werden sollte. Das gilt mit allen seinen geschichtlich relevanten Folgen vor allen Dingen für die Übernahme des römischen Gregorianischen Chorals im Frankenreich seit der »Admonitio generalis« im späten 8. Jahrhundert, der Anweisung Karls des Großen zum Schulleben, zum Lesen, Schreiben und Singen. Es gilt aber auch für die Entfaltung der Mehrstimmigkeit seit dem 9. Jahrhundert, hier freilich nicht durch herrscherliches Gebot, sondern durch die »Auctoritas«, das heißt durch das Vorbild und die Attraktivität einer neuen Art von »Ars musica«, die sich in den folgenden Jahrhunderten als eine einzigartige Leistung des christlichen Abendlandes erweisen sollte.Prof. Dr. Peter SchnausEggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Taschenbuchausgabe München u. a. 1996.Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.Gülke, Peter: Mönche, Bürger, Minnesänger. Musik in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters. Leipzig u. a. 21980.
Universal-Lexikon. 2012.